So wurde das Bäumchen größer und größer und wuchs und wurde ein schöner Baum, aber immer geprägt von den Ansichten und Wünschen anderer und immer, wenn die Jahreszeit kam, die Bäume herzurichten, zu beschneiden, dann kriegte der Baum wieder seine richtige Form. Aber irgendwann geschah etwas verwunderliches, die Besitzer des Parks verließen die Anlage, zogen aus und damit auch die lästigen Gärtner, der Park war sich selbst überlassen, das Unkraut schoß ganz unverschämt in die Höhe, die Hecken schlugen aus, die Skulpturen kleideten sich kess in grünes Frühlingsmoos, die Bäume balgten sich albern auf einer Wiese, die chaotisch mit Maulwurfshaufen verziert waren, eine wilde Gesellschaft. Nur unser Baum, der besonders schön und groß und prächtig war und er auch auf sich achtete, konnte nicht so mittun, wollte auch nicht, er hatte höhere Ziele und das war auch gut so. Er entwickelte einen mächtigen Stamm, dicke tragfähige Äste und so erlebte er einige Sommer und Winter. Doch irgendwann spürte er Regungen in sich, die er von ganz früher her kannte, die er eigentlich gern mochte und dann stellte sich ihm die Frage: wie kann ich diese Stärken wieder nutzen, die so lange geschlafen hatten, wie sie wieder zum Leben erwecken? Aber wo in der Größe des Baumes waren sie gelagert, in den Blättern, in den Ästen, im Stamm oder in den Wurzeln? Und wenn man an die vielen Jahresringe denkt, die der Baum inzwischen hat, waren sie wohl in einem der inneren Ringe gewesen. Der Baum machte nun folgendes: In der Tiefe einer blauschwarzen Nacht drehte er seine Blätter um, so dass das Untere nach oben schaute und das kannst Du einfach mal nachvollziehen, indem Du die Hände umdrehst, das kannst Du aktiv machen, mit den Handinnenflächen nach oben und dass der Baum in diese Hände, die er mit seinen Blättern bildete und die aussahen wie hunderte von kleine Schalen, diese ganzen bitteren Erfahrungen hineinfließen ließ, die Begrenzungen, die ungemäßen Bindungen, die achtlosen Worte der Gärtner, all die geweinten und ungeweinten Tränen, all das ließ der Baum in seine Blätter hineinfließen, in die Blätterschalen, auch die Zwänge und die Fesseln und all die dummen Beschneidungen seiner Kraft und seiner Fähigkeiten und seines ursprünglichen Wachstums, auch seine wehmütigen Gefühle, all das ließ der Baum in seine Blätter hineinfließen, eines Nachts und was machte er dann? Er ging in einen tiefen, tiefen Schlaf, tiefer noch als tief und vielleicht, ohne dass er es direkt bemerkte, floss noch diese oder jene Träne aus ihm heraus. Die Nacht war geheimnisvoll still und der Baum kam ganz zur Ruhe, da passierte etwas Eigenartiges, ganz von allein, ohne dass der Baum das machte, das machten einfach die Blätter, sie wendeten sich ganz von allein in einer lautlosen Bewegung, kleine, langsame, ruckartige Bewegungen, die für solche Vorgänge typisch sind, die Blätter drehten sich wieder in ihre natürliche Position und entleerten sich, genau wie Deine Hände ganz von allein anfangen sich zu drehen, sich zu wenden, so dass ganz automatisch von alleine der Inhallt herausfließen kann. In der Dunkelheit der Nacht und keiner merkt es, nur der Baum fühlte ein leichtes Wehen in seiner Krone, so als ob der Baum tief atmet, so als ob er die Wurzeln noch tiefer in die Erde steckt und bessere Nahrung tanken kann. Und bei jedem Ausatmen erfolgt ein neues leichtes Drehen, eine ruckartige Bewegung, bei der die Blätter leicht erzittern und alles rutscht heraus. Wenn langsam die Dämmerung kommt und der Morgen graut, die ersten Sonnenstrahlen den Baum wieder vorfinden, hat sich etwas getan, der Baum wirkt üppiger, der Stamm kräftiger, stärker und der erste Vogel kommt, läßt sich nieder und trällert sein frühes Lied, er singt dem Baum vom Leben und der Baum versteht.